Bin ich trotzdem ein guter Mensch?
Ich als Weltgesellschaft soll mich empören. Gefällt mir. Aber ist der Aufstand nicht doch auch ein Märchen der Zeit?
von Claudia Tondl

Fünfzehn Seiten Appell. Traumhaft in Türkis gebunden, leuchtet das Heftchen in jedem Buchgeschäft einladend aus der erdrückenden Masse geschriebenen Wortes, verführt zum Kauf. Die Nachfrage ist groß, der Autor ist alt. 93 Jahre. Und mit diesen Jahren weiß der Mann von einer imposanten und bewegenden Lebensgeschichte zu erzählen. Er überlebte nicht nur das Konzentrationslager Buchenwald, sondern zeichnet auch als ehemaliger französischer Widerstandskämpfer für die UN-Menschenrechtscharta verantwortlich. "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.", steht in Artikel 1 geschrieben. Eben an jene Vernunft und jenes Gewissen appelliert Stéphan Hessel, wenn er mit seinem Manifest "Empört euch!" proklamiert.

Aber wie weit steht es um unsere Empörung? Brauchen wir die überhaupt? Naja. Die Finanzmärkte sind zusammengebrochen, die Arbeitslosigkeit erreichte einen Höhenpunkt, die Politik tut alles erdenklich Mögliche, um die staatlichen Probleme nicht zu lösen und lässt damit Menschen gehört werden, die als einziges Patent Hass auf Andere und Anderes anbieten und immer erfolgreicher propagieren. Um uns ereignen sich Naturkatastrophen, die uns Menschen vor Augen führen, wie hilflos wir eigentlich unserem Dasein ausgesetzt sind und anstatt mit der Welt zu arbeiten, arbeiten wir permanent gegen sie. Am besten gegen alles und gegen jeden. Ich bin. Das Individuelle ist unser persönliches Heiligtum. Der Mensch als Monade. Vernunft existiert nicht. Kann gar nicht existieren, denn die Macht des Geldes ist zu groß, zu stark, zu unüberwindbar. Wenige oben scheffeln sich die Taschen voll, während der Rest der Weltbevölkerung die Konsequenzen zu tragen hat. Und wir? Empören wir uns? Wir hätten jeden Grund. Doch leben wir in einer demokratischen Blase. Hier können wir sein. Wir könnten, wenn wir wollten. Unsere Stimme würde jederzeit gehört. Das reicht, also lehnen wir uns zurück, schweigend. Und weil wir Menschen dazu verdammt und erzogen sind, die Stille nur sehr bedingt zu ertragen, posten wir dazwischen, ab und zu oder dauernd und sehr gerne unsere ernsthaften Absurditäten und banalen Ergüsse auf facebook – einer harmonisch freundlichen und friedlichen Vereinigung aller WeltbürgerInnen, jedem Datenmissbrauch und Mobbing-Opfer zum Trotz. Gefällt mir ist zum nationalen und internationalen Hobby geworden. Die Erdatmosphäre könnte genauso gut von einer schillernden Seifenblase ersetzt werden.

Bis sie platzt. Aber was bringt sie dazu? Der manifeste Aufruf, sich zu empören, vermag das nicht. Im Gegenteil. Spätestens mit der letzten der fünfzehn Seiten schlägt die hohe Erwartung in niederste Enttäuschung. Da sagt mir ein 93-jähriger Mann, der verfolgt wurde und gekämpft hat, "aus ganzem Herzen und in voller Überzeugung": "Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen." Was Neues? Wie Widerstand? Wogegen? Werde ich bedroht? Hallo! Ich schüttle das Buch, aber mehr kommt nicht heraus. Aus mir stößt ein Ja, eh. Frustriert und unzufrieden. Wenn Stéphan Hessel den Jungen einräumt, heute in einer anderen Wirklichkeit zu leben, in denen die Anlässe sich zu engagieren nicht mehr so offen zutage liegen, sage ich, der Mann hat Recht. Die westliche Welt, in die ich geboren wurde und in der ich lebe, tut mir nichts. Es geht mir gut. Prinzipiell. Doch behauptet Artikel 1 von mir, mit Vernunft und Gewissen begabt zu sein. Ah ja. Wo bitte? Und noch wichtiger: Was mache ich damit? Mit einem Mal und urplötzlich ist mir elend zumute. Um mein Gewissen nicht länger zappeln zu lassen, muss ich meiner selbst eingestehen, dass das System, in dem es mir augenscheinlich gut geht, eigentlich und tatsächlich schlecht ist. Und nicht nur irgendwie, sondern von vorne bis hinten. Das System ist schlecht. Schamlos und niederträchtig beutet es Menschen aus. Menschen, die durch mein Konsumverhalten in abscheuliche Bedingungen getrieben, dort geradezu gehalten und ausgebeutet werden. Mein Übermaß und meine Verschwendung produzieren mehr. Mehr von allem. In der Produktion ist der olympische Gedanke längst das Ziel. Und ich bin der Weg. Ein Trampelpfad.

Weil meine Mittel im Vergleich aber so minimal, so klein und unvollkommen scheinen, poste ich zumindest diesen Gedanken auf facebook – immerhin: "Das System, in dem wir leben ist schlecht." Ich bin stolz auf mich. Ich bin frei, das auszusprechen. Herr Hessel, ich engagiere mich, konkret. Pause. Pause. Pause. Und mit mir, rekordverdächtig, 32 fb-Freunde, denen mein Posting gefällt. Daumen hoch. Die Welt wird gerettet werden. Gemeinsam haben wir ein Zeichen unseres Aufbegehrens für die Veränderung dieses Systems gesetzt. Außerdem bin ich schon längst Mitglied bei Avaaz und unterschreibe jede Petition. Ich unterschreibe für den Stopp der Atomkraft. Ich unterschreibe für den Stopp der Abholzung des Regenwaldes. Ich unterschreibe für den Stopp des weltweiten Bienensterbens. Ich unterschreibe für den Stopp der Informationssperren im Nahen Osten. Ich unterschreibe für den Stopp von Rupert Murdoch. Ich beteilige mich – ja, das tu ich wirklich – und behaupte überzeugt: Ich bin am richtigen Weg.

Der Medientheoretiker Marshall McLuhan stellte bereits in den 1960er-Jahren fest, dass wir deutlich mehr durch die Medien geformt werden, mit denen wir kommunizieren, als durch den Inhalt, den wir mit ihnen kommunizieren. Das Medium ist die Botschaft. So verkaufen uns soziale Netzwerke wie facebook das Gefühl, in dem von McLuhan geprägten Begriff des globalen Dorfes als WeltbürgerIn zu leben. Ich bin Weltgesellschaft. Ich bin Weltgesellschaft, so wie ich da sitze: als Monade hinter meinem Bildschirm, von der Revolution abgekoppelt durch die demokratische Blase, die mich umgibt. Ich brauche kein autokratisches System niederschlagen, ich muss keinen Diktator stürzen, ich habe mit dem Kampf gegen ein tyrannisches System nichts am Hut. Aber ich bin involviert indem ich davon lese. Ich lese davon, weil auch ich Welt bin. Ich bekomme die Ereignisse in Echtzeit in mein Wohnzimmer. Die Vögel zwitschern es von allen Dächern. Ich bin Welt und alle meine fb-Freunde sind es auch. Mit diesem Gefühl drehe ich mich um. Und starre in die Leere. Um mich herrscht Einsamkeit.

Was muss ich tun? Muss ich etwas machen? Ich bin definitiv kein "Ohne mich"-Typ. Immerhin träume ich seit Jahren von meinem Passivhaus und meinem eigenen Gemüsegarten. Ich bin fähig mich zu empören. Jawohl, ich engagiere mich. Ich bin mit Attac Österreich befreundet. Ich bin mit Global 2000 und Amnesty International befreundet. Ich bin mit den Vier Pfoten befreundet. Ich bin mit Greenpeace und dem WWF befreundet. Ich trage ein bockig-T-Shirt und Schuhe aus umweltfreundlichem Hanf. Ich beziehe Öko-Strom. Ich esse regionales Bio-Gemüse aus kontrolliert ökologischem Anbau und kaufe nur Fair Trade-Produkte. Ich bin ein guter Mensch. Alte Kleidung spende ich der Caritas. Ich verwende recyceltes Klopapier und spare beim Wasserverbrauch. Ich heize nicht zu viel, sondern ziehe mir lieber einen zweiten Pullover an. Ich fahre mit dem Fahrrad und lasse mir von den Abgasen die Luft nehmen. Ich bin ein guter Mensch. Ein guter Mensch.

Ich sehe mich nicht im Stande, am großen in sich geschlossenen System, mit all seinen LobbyistInnen, anzuecken. Ich sehe mich nicht im Stande, gegen die Macht der Finanzmärkte vorzugehen. Global ist zu groß, zu unüberschaubar. 2007 proklamierten die AutorInnen des Essays Der kommende Aufstand bereits eine alternative Gesellschaft von föderierten Kommunen und selbstverwalteten lokalen, ökonomischen Organisationen. Ist das aber der richtige Weg? An dieser Stelle ließen sich auch Karl Marx und Friedrich Engels zitieren, die im Kommunistischen Manifest die Bourgeoisie anklagen, die feudalen Verhältnisse zerstört und anstelle persönlicher buntscheckiger Feudalbande das nackte Interesse, die gefühllose bare Zahlung herbeigeführt zu haben. Ja, eh. An dieser Stelle ließe sich Martin Luther King zitieren, der mit seiner Rede I Have A Dream für die konstituierten unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Anspruch auf Glück aller Menschen erinnerte. Ja, eh. An dieser Stelle ließe sich Bob Dylan zitieren, der mit Blowin' In The Wind viele existentielle Fragen aufwarf. Ja, eh. An dieser Stelle ließen sich The Beatles zitieren, die innbrünstig All You Need Is Love verfochten, weil du nicht tun kannst, was nicht getan werden soll, weil du niemanden retten kannst, der nicht zu retten ist, weil du nicht sehen kannst, was sich nicht zeigt. Ja, eh. An dieser Stelle ließen sich noch viele weitere Märchen zitieren. Der große Aufstand ist wünschenswert, doch liegt er fernab vom Rahmen unserer Realität. Wir wünschen. Ja. Wir tun auch. Aber jede Monade für sich. So scheitern wir am großen Aufstand, noch bevor er begonnen hat. Die weltweite Empörung bleibt ein Traum.

 

 

Claudia Tondl lebt und arbeitet in Wien als freie Autorin und Texterin. Sie schreibt Theaterstücke und Prosa. Mehrfach publiziert ("entwürfe", "etcetera" u.a.) und uraufgeführt (Staatstheater Mainz, Garage X u.a.). 2010 erhielt sie das Dramatikerstipendium des bm:ukk und schreibt derzeit als Stipendiatin der Stadt Wien an einem neuen Stück.

Meldungen


  • Garage X wird zu WERK X

    Sie befinden sich auf der alten Seite der Garage X (2009-2014).

    Den aktuellen Spielplan des WERK X finden sie unter www.werk-x.at!

     
  • GARAGE X liest:

    5 JAHRE GARAGE X


    © Alex Halada

    Nach 5 Jahren Theaterarbeit mündet diese nun in einem Buch mit vielen Fotos und Gastbeiträgen namhafter TheatermacherInnen, MusikerInnen und KünstlerInnen wie Nicolas Stemann, Schorsch Kamerun, Angela Richter und Milo Rau.

     
  • Internationale Presse über GARAGE X

    "Ein typisches Beispiel für den lässig-unaufgeräumten Stil, den die GARAGE X etabliert hat." - Wolfgang Kralicek, Theater heute, Februar 2013

    "Alexander Simon (...), ein fabelhaft eitles Mistviech, der den Autor Houellebecq mit scharfer Kontur verkörpert." - Egbert Tholl, Süddeutsche Zeitung, 21.11.2012

    "...In Berlin im Hau oder in Wien in der Garage X, dort trifft man dann auf die Magie, die dem Stadttheater längst abhandengekommen ist..."
    Peter Kern, Das Theater schafft sich ab, FAZ am Sonntag, 02.05.2011

    "Die Garage X in Wien gilt als Ort, an dem sich auf fruchtbare Weise gesellschaftliche Gegenwart mit zwingenden Theatererlebnissen verbindet."
    Hamburger Abendblatt, 08.12.2011

    "Die Garage X tut sich als eines der führenden Theater Wiens hervor mit Gastspieleinladungen wie ans Hamburger Thalia Theater und Lob in der FAZ"
    Dorothee Frank, Ö1, 28.01.2012

     
  • Kooperationen

    banner_320x360.gif

     
  • Palais Kabelwerk, GARAGE X und daskunst freuen sich über neues Projekt ab 2014

    kabelwerkx
    © WERK X

    Wien (OTS) - Wie bei der Pressekonferenz der Wiener Theaterjury am Freitag 15.02.2013 durch den amtierenden Kulturstadtrat Dr Andreas Mailath Pokorny bekannt gegeben, werden das Palais Kabelwerk und die GARAGE X unter Partizipation der Gruppe dasKunst ab 2014 ein gemeinsames Projekt starten.
    > mehr...