MY GENERATION
von Jorghi Poll

LEKTION EINS: Wir treffen uns alle bei einer Demo. Das Prinzip ist soweit klar. Der gesammelte Wille der Masse zeigt sich auf der Straße. Plakate, Parolen und Polizeisperren. Der Marsch von hier nach dort. Tausende marschieren mit, die Sympathisanten am Straßenrand jubeln, ein paar reaktionäre Elemente werfen uns Schmähungen an den Kopf. Aber wir bleiben unerschütterlich. Wir sind die Masse, und wir sind im Recht. Die Parolen werden lauter, wütender, je näher wir ans Dort kommen und die Wasserwerfer stehen in Position. Aber die stehen da nur pro forma. Was sonst. Ein paar von uns wird es bei ihrem Anblick mulmig in der Magengegend, aber die Masse treibt sie einfach weiter. Ist doch klar, dass das System Angst um sich hat, je starrer, desto ängstlicher. Dann sind wir dort und die Marschierenden drängen sich auf einem weitläufigen Platz zusammen, tausend Kehlen fordern das Selbe. So geht es zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine Stunde oder auch zwei. Dann – spätestens dann haben diejenigen, an die unsere Botschaft gerichtet ist, gemerkt, dass wir da sind. Natürlich sind sie von der Stimme des Volkes überrascht. Sie schauen vorsichtig durch die Gardinen an ihren Fenstern und pressen die Lippen zusammen. In der nächsten Ausschusssitzung werden sie bei den Vertretern der Interessensgruppen mal nachhorchen, was Sache ist. Sie werden sich aufregen und wütend werden, weil sie es ja besser wissen. Sie werden nichts ändern wollen. Aber sie werden es müssen, weil die Stimme des Volkes bei Bedarf wiederkehrt, wenn sich nichts tut, und erst recht, wenn Gewalt gegen sie angewendet wird und sich dann aufs Neue erhebt und wieder brüllt und wieder Plakate und Parolen mit sich führt, und wieder werden diejenigen, an die die Parolen gerichtet sind, nichts ändern wollen, denn sie wissen es ja immer noch besser, aber sie wissen es besser mit ein, zwei, drei kleinen, aber deutlich sichtbaren Schweißperlen auf der Stirn, und beim nächsten oder beim übernächsten Mal, wenn der Schweiß so langsam ihre Oberlippen erreicht und ihre Achselhöhlen verdunkelt, dann endlich werden sie es ändern und klein beigeben, denn sie sind ja abhängig vom Volk. Und die Masse hat ihr Ziel erreicht und jubelt und freut sich und steht bereit für das nächste Mal, wenn man wieder was zum Demonstrieren hat.

Und nach hundert Jahren Demonstrationskultur gehen die Massen immer noch auf die Straße, wenn etwas falsch läuft und die neuen Machthaber wie die alten sind. Sie marschieren wie immer, sie haben ihre Plakate und Parolen dabei, die sie schon immer dabei hatten, und sie wissen, dass sie Recht haben, mit dem, was sie fordern. Nur dass die neuen Machthaber nicht mehr vorsichtig hinter ihren Gardinen auf die Straße schauen. Sie machen sich gar nicht erst die Mühe, aus ihren Sesseln zu steigen, weil sie wissen, wie es läuft. Weil sie vor zwanzig, vor dreißig und vierzig Jahren genau an derselben Stelle auf der Straße standen und Parolen hinaufgebrüllt haben. Weil sie heute, hier und jetzt, vor dem Willen des Volkes und seinem Zorn nur mehr dann Angst haben, wenn sich die Medien hinter ihm versammeln und weil sie, seien wir doch ehrlich, mit den Chefs der Presse immer noch im gleichen Sandkasten spielen. Und das, was sie jetzt hören, weckt in ihnen nur noch ein müdes Lächeln, und auf ihren Stirnen zeichnen sich nur dann Schweißperlen ab, wenn sie voller Redlichkeit vor den Kameras erklären, wie wichtig ihnen die Anliegen sind, die hier vorgetragen werden, und dass sie ihr Bestes versuchen werden, diesen Anliegen Rechnung zu tragen. Und bei der nächsten Demonstration sagen sie das Gleiche wieder, nur dass sie diesmal die Dringlichkeit betonen, die das Anliegen, das ja auch ihres ist, besitzt. Und bevor die übernächste Demonstration überhaupt begonnen hat, sind diese Anliegen schon immer ihre gewesen, und sie werden alles versuchen, dass ihr Antrag bis zur nächsten Gesetzesnovelle vor der Opposition gehört wird. Dann wird ein Antrag verfasst, der vor Klauseln, Fußnoten und Hintertürchen nur so strotzt und der natürlich nicht angenommen wird. Und nach einiger Zeit werden die Parolen leiser und leiser, so leise, dass man sich wundert, warum denn unsere Generation plötzlich ihr Demonstrationspotenzial verloren hat, nur weil für die Politik auf einmal Inszenierungsinteresse und Realpolitik zwei grundlegend verschiedene Dinge geworden sind. Die gutmeinenden Demonstranten einer beliebigen ersten Stunde stoßen uns an: Mensch, es ist so wichtig, dass ihr demonstriert, wollt ihr denn gar nichts verändern? Schaut uns an. Wir haben doch was erreicht, wir haben noch was verändert. Habt ihr denn gar keine Ziele? Dann krampft sich irgendwo tief in der Magengrube etwas zusammen, und man denkt sich, jawoll, wir stehen dazu: Wir müssen was bewegen, und wir werden was bewegen. Über unsere Online-Foren werden wir Tausende zusammenrufen, die Parolen ausgeben und einen Flashmob auf die Straße stellen, der brüllt, dass die Gebäude wackeln. Und siehe da, es funktioniert. Im Forum Klappe X „Revolution now!“ versprechen fünfzig Leute zu kommen, dann sind es hundert, zweihundert, fünfhundert, tausend und zweitausend Demonstranten. Sie alle stehen zu den Parolen, sie alle wissen, was falsch läuft. Und man hat es geschafft und ballt die Faust vor Freude, dass sich was bewegt. Wenn dann der Tag kommt, wenn dann der Tag da ist und die Zeit und der Ort, aber statt zweitausend nur drei Leute kommen, mit ihren Plakaten und Parolen und sich zu einer kleinen, schüchternen Masse zusammendrängen und dann der Demonstrant der ersten Stunde wie zufällig an dieser kleinen Masse vorbeispaziert und sich freut und schulterklopft und meint, wie toll es doch ist, dass Leute noch für ihre Ziele auf die Straße gehen, dann, dann, dann kapiert man es. Und hasst sich dafür, dass man es nicht schon viel früher kapiert hat, und wünscht sich nur noch im Boden zu versinken und schämt sich für die eigene Dummheit, mit der man die Welt betrachtet, mit der man durchs Leben spaziert, und verwünscht den alten Sack in die Hölle und alle alten Säcke, die einem vor zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren den unbeschwerten Glauben an die Möglichkeit des Einfachen gestohlen haben, und schämt sich einfach nur.

LEKTION ZWEI: Wenn man also beschämt zwischen ein bis zwei Leidenskumpanen steht, mit einem schüchternen Plakat in der Hand, aber einer tieferen Überzeugung im Herzen, dann begreift man zunächst eines, nämlich, dass eine bürgerliche Demonstrationskultur eine wohlerzogene Meinungsäußerung ist, der es missfällt, zu viel zahlen zu müssen oder zu wenig zu bekommen, die aber genau weiß, dass sie nichts weiter tut als ihre Meinung abzugeben, bevor sie ebenso wohlerzogen und in aller Ruhe wieder nach Hause geht und schweigt. Sollte aber irgendwann einmal die wirkliche Notwendigkeit für eine Demonstration kommen, sollte es tatsächlich einmal so weit sein, dass die Menschen wieder für abstrakte Begriffe wie Demokratie, Rechtstaatlichkeit oder humanistische Ideale auf die Barrikaden gehen, dann muss sich nicht nur das Bürgertum vorher dreimal um die eigene Achse drehen, dann muss auch das gesamte politische Bewusstsein wieder neu und anders und vom Kindergarten an eingetrichtert werden. Nicht als lästige Pflichtübung für die Allgemeinbildungsschublade, sondern aus Überzeugung. Damit wir endlich, nach über zweihundert Jahren, doch noch mündige Bürger werden. Aber wir wissen ja auch, nicht wahr, obwohl jeder von uns davon überzeugt ist, selbst ein mündiger Bürger zu sein, dass dieser sogenannte „mündige Bürger“ schwer zu finden ist im Trubel der Klappe-die-unzähligen-seichten-Fernsehformate, der Klappe-die-allumfassende-Floskelrhetorik unserer immer weiter grassierenden Sensationskultur, und eigentlich ist er ohnehin in Wahrheit eines, und das wissen wir auch, nämlich Klappe unerwünscht.

LEKTION DREI: Dabei geht es uns doch gut! Wir sind immer noch besser dran als alle anderen. Die Krisen haben uns nicht verschont, aber wir sind gut davongekommen, halbwegs, bis jetzt. Also danken wir dem Schicksal, oder besser, danken wir uns selbst. Denn immerhin haben wir es ja selbst geschafft, und es ist nicht mehr wichtig, dass wir es auf dem Rücken der anderen geschafft haben, mit denen wir im selben Boot sitzen. Wer es nicht bewerkstelligt, genug finanzielle Reserven aufzubauen, um in Zeiten der Staatsüberverschuldung auch noch wettbewerbsfähig zu bleiben, ja, mein Gott, der ist halt eben selber schuld. Dass wir die Kollegen im gleichen Boot dann wieder finanziell unterstützen, weil sie zusammenbrechen, das kommt dann summa summarum aufs Gleiche raus. Da freuen wir uns doch, dass es wenigstens uns selbst so gut geht. Aber eigentlich geht es uns nicht gut. Wir sind psychisch fragil, beziehungsunfähig und kleben hilfesuchend an unseren Handys, wir haben unzerstreubare Zukunftsängste, sind hoffnungslos überarbeitet und in unserer kurzen restlichen freien Zeit werden unsere Sinne mit Unsinn reizüberflutet. Wer heute immer noch glaubt, dass wir zu dem gehören, was man einmal Wohlstandsgesellschaft genannt hat, dem ist nicht mehr zu helfen. Wir lachen uns schon seit Jahren tot über die Vierzigstundenwoche und würden sie am liebsten in Grund und Boden stampfen, weil wir längst sechzig Stunden und mehr wie die Irren arbeiten und malochen und wir uns den Chefs und Unternehmern halbfreiwillig und jahrelang als Praktikanten unterjocht haben, nur in der Hoffnung darauf, einmal nach dieser Gratis-Leibeigenschaft als bezahlte Knechte sechzig Stunden ohne Überstundenvergütung weiterarbeiten zu dürfen, und – Hurra! – das haben einige von uns auch wirklich erreicht, die sind jetzt tatsächlich die Leibeigenen jener Chefs, die Klappe-die-tausendneunhundertachtundsechzigste-Gewerkschaftsbildung noch für den Arbeitnehmerschutz auf die Barrikaden gestiegen sind. Und all das, was über diese Sechzigstundenwoche und mehr hinausgeht, was unsere Ideale und das Potenzial des Weltverbesserns angeht, all das, was unserer Generation nicht gelingt, das muss man wohl Bequemlichkeit schimpfen. Vielleicht bekommen wir ja für unser Bravsein irgendwann von irgendwem mal ein angelutschtes Bonbon geschenkt, vielen Dank.

LEKTION VIER: Sobald man die eigene Grundnaivität mal abgelegt hat, sobald man weiß, dass Klappe-die-tausend-achthundertachtundvierzigste-gesellschaftlicher-Widerstand Geschichte ist, die immer und überall aus zwei Grundlagen heraus entstanden ist: den einfachen Feindbildern und dem Glauben an Alternativen zum herrschenden System, und sobald man weiß, dass Bravsein nichts bewegt – sobald man das begriffen hat, entsteht die Wehmut nach Revolution. Dann geht man nachts heimlich auf die Straße, verklebt die Wahlplakate der Rechten mit Paketklebeband bis zur Unkenntlichkeit, sprayt seine Parolen auf Mauern und Hauswände und feiert die eigene, heimliche Autonomie. Man bildet sich ein, Teil einer Masse zu sein, die man nie zu Gesicht kriegt, die aber da ist, denn bei drei von fünf Plakaten, an denen man vorbeigeht, sieht man ja den Beweis und an acht von zehn Hauswänden und zwanzig von zwanzig öffentlichen Toiletten sieht man ihn auch. Und man glaubt immer noch, etwas zu bewegen und merkt nicht einmal, dass man immer frustrierter und frustrierter wird, bis man seine eigene kleine autonome Gruppe findet, mit der man sich der Illusion hingibt, eine Gemeinschaft im Glauben zu sein, und sich gegenseitig in der eigenen Frustration und Aggression bestärkt und hochputscht, so hoch vielleicht, dass man in Nächten der öffentlichen Unruhe in den Vororten Autos anzündet, die unser Klima vergiften, und sich im Adrenalinrausch vorstellt, ein Held zu sein, der die Welt rettet, ein Revolutionär, auf dem dereinst in besseren Tagen ein Mythos begründet werden wird, ein Held!, ein Revolutionär! Doch am nächsten Morgen ist vom Mythos keine Spur mehr übrig. Vom Heldentum ist weit und breit nichts mehr in Sicht. Dann sieht man nur Verwüstung, Destruktion und Vandalismus und eine alte Frau, die fassungslos vor ihrem ausgebrannten Autowrack steht. Und einmal mehr wird klar, dass Destruktivität nichts hilft, dass sie nichts weiter ist als der Ausdruck der eigenen, peinlichen Hilflosigkeit und Aggression – und die Glücklicheren unter uns haben das ohnehin schon vor dem Autoanzünden und Fenster-scheibeneinwerfen gewusst. Und wenn man die Alkoholleichen seiner Revolutionsgarde verabschiedet und aus lauter Scham vor der eigenen geistigen Armut trotz allem noch Revolutionspotenzial in sich spürt, dann will man handeln und denkt erst einmal nach.

LEKTION FÜNF: Man denkt darüber nach, was man getan hat und warum man es getan hat und fragt sich, was man stattdessen Sinnvolleres hätte machen können. Doch auch nach längerem Nachdenken kommt man zu keinem Ergebnis. Denn um wirklich zu wissen, wie diese globalisierte, wirtschaftsdiktierte und offenbar überall irgendwie komplex zusammenhängende Welt funktioniert, bräuchte man entweder ein dreihundertjähriges Studium oder einen Intelligenzquotienten, der alles bisher Dagewesene sprengt. Wir glauben ja daran, dass hinter all dem ein Sinn verborgen liegt, der sich uns nur nicht erschließt, denn das Gegenteil davon, nämlich dass selbst die international einflussreichsten Politiker nicht viel mehr wissen als wir selbst und dass das alles nur deshalb halbwegs funktioniert, weil die allgemeine Angst und Hysterie immer wieder – und sei es auch erst im letzten Moment – durch diese oder jene Streicheleinheit unterdrückt werden, das lernt man erst nach Klappe-der-hundertxten-Krise. Und aus diesem Grund haben wir auch absolut keine Ahnung, wo man den Hebel denn ansetzen könnte, außer in dem immer wieder und bis zum Erbrechen zitierten kleinen, privaten Lebensumfeld. Und deshalb kommt man, wenn man sich fragt, was Revolution heute eigentlich kann, darf und soll, irgendwann zwangsläufig auf die Idee, dass der Kapitalismus das große, üble globale Ding geworden ist, gegen dessen Wände und Mauern man sich überall und nirgends und eher nirgends den Kopf einzurennen versucht. Denn ein Auto anzuzünden kurbelt den Markt eher an, als dass es ihn besiegt. Und Kapitalismus ist genauso wie die große weite Welt für mich und für uns alle zu groß, zu weit, zu unantastbar, zu schleierhaft verworren, zu komplex, zu widersprüchlich und verdammt noch mal zu konkurrenzlos, als dass da irgendetwas möglich wäre, außer schwach wiederholten Rufen nach Markt- und Bankenregulierungen, die sich weltweit niemals werden durchsetzen lassen, weil jeder sein eigenes Süppchen kocht. Und genau an diesem Punkt geben die Demütigeren und Pragmatischeren unter uns Weltverbesserern einfach auf und bleiben nur dabei, um Fair-Trade-Kaffee zu kaufen, und haben einfach keine Lösung für die ganze globale Scheiße mehr parat, die uns Tag für Tag für Tag um die Ohren fliegt und die wir Tag für Tag für Tag an uns ranlassen müssen, weil wir uns dem ganzen verdammten Scheißdreck, unter dem das alles hier bald begraben sein wird, längst nicht mehr entziehen können, und haben einfach keine Lösung mehr für die ganze globale Scheiße als unser winziges Nein, das nicht mehr ist als ein Staubpartikelchen in einem unendlichen Universum aus Kriegen, Hunger, Armut, Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt, Umweltkatastrophen, Wirtschaftskrisen, Klimawandel, Folter, Lügen, Korruption und Hass und Tod und Leid, das uns bis zum Exzess verfolgt. Und von überall her schlagen uns dringliche Stimmen um die Ohren, dass man doch hier dies und dort jenes unbedingt verändern, helfen, spenden, beistehen, mitfühlen und verstehen soll, dass man sich engagiert und seine empörte, engagierte und malträtierte Hilflosigkeit über die ganze Welt verteilen und einfach überall helfen soll, wenn man es denn wirklich ernst meint. Wer hat da noch Zeit für Ideale? Wer hat da noch Kraft, sein kleines, unbedeutendes und unnützes Nein der ganzen Welt Tag für Tag erneut entgegenzuschleudern? Und doch – wir wissen, dass es nur so funktionieren kann und wir glauben daran, dass es funktioniert, wenn nur genug andere auch daran glauben. Andere, die sich bei all der Freiheit, die wir genießen, dazu entschieden haben, abgeschmackte Begriffe wie Werte und Moral in sich zu finden, Dinge, über die man immer lacht, wenn man sie hört. Deshalb streckt man trotzigstolz das Kinn nach vorn und sagt nur, dass es wichtig ist, und schweigt, wenn einer fragt, warum. Man schluckt es runter, denn nur, wenn man es für sich behält, das kleine Vögelchen Hoffnung, ganz tief unten drin im Bauch, und nicht von seinen Idealen spricht, nur dann kann man sich sicher sein, dass man es nicht zerstört.

LEKTION SECHS: Möglicherweise hat sich dieses Prinzip namens Ideal trotz und wider allen besseren Wissens tatsächlich in einigen Köpfen bewahrt. Wir haben nur kein Dogma mehr und damit vor allem kein globales, gesellschaftliches Ziel, kein Kommunismus sagt uns, was wir wie erreichen müssen, kein Sozialismus hilft uns noch beim Weltverändern, weil das alles nur der geringste Teil dessen ist, was getan werden muss. Die Zeit der Dogmen ist vorüber, alle Alternativen haben sich als unzureichend herausgestellt und wir haben keine Utopie mehr in der Schublade für einen Gegenentwurf zum Kapitalismus, denn ein vernünftiger Gegenentwurf bedeutet die Berücksichtigung von Fakten – genauer gesagt, die Berücksichtigung von Fakten innerhalb eines sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Netzwerkes an Informationen und Empirie. Ein Gegenentwurf, der in dieser Komplexität unsere Mittel und Möglichkeiten bei Weitem überschreitet und mindestens die Gemeinschaft aller erfordert und nicht nur dieser oder jener Masse, die sich zufällig einmal im Laufe der Geschichte für diese oder jene Revolution zusammengefunden hat. Vielleicht hilft ein kleines, völlig willkürlich gewähltes Beispiel einiger Schlagworte zur Veranschaulichung, das keinerlei Anspruch auf Wirksamkeit erhebt und nur den Rahmen verdeutlicht, in dem es passieren muss: Punkt A: Abschaffung der Zins- und Zinseszinswirtschaft auf globaler Ebene zur Stabilisierung des Geldwertes und Befreiung vom weltweiten Wachstumszwang von Wirtschaft und Kapital. Punkt B: Auflösung aller Staatengebilde und Einrichtung von regional autonomen Wirtschaftsräumen mit globaler virtueller Vernetzung sowie einem ausgewogenen System an sinnvollen, kontinuierlichen und flexiblen Ab- und Zuflüssen zwischen strukturell starken und schwachen Regionen. Punkt C: Weltweite Bündelung kollektiver Ressourcen und Energien sowie deren Produktion und Entwicklung. Punkt D: Weltweite Bündelung von Bildung, Wissenschaft und Forschung. Punkt E: Gesetze für die sinnvolle und nachhaltige Nutzung von Ressourcen und Klimaschonung. Punkt F: Auflösung aller bestehenden Heere und Kriegswaffen sowie Überführung der bislang nationalen Militärbudgets in die globale Bildung, Kultur und Wissenschaft. Punkt G: Agenden für die Einhaltung von Menschenrechten. Punkt H: Agenden für die Abschaffung von Korruption. Punkt I: Aufhebung der politischen Immunität zum Schutz der Bürger. Punkt J: Völlige Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Punkt K: Völlige Gleichberechtigung zwischen allen Menschen. Punkt L: Verschärfung des Gesetzes gegen nationalsozialistische Wiederbetätigung und gerichtliche Befolgung dieses Gesetzes. Punkt M: Öffentliche und allgemeine Ächtung populistischer und religiöser Propaganda. Punkt N: Abschaffung der Todesstrafe. Punkt O: Abschaffung der Folter. Punkt P: Rücknahme aller rigiden Asylgesetze und Gebot der Gastfreundschaft. Punkt Q: Aufklärung gegenüber allen Arten von Vorurteilen. Punkt R: Durchsetzung globaler Medien- und Meinungsfreiheit. Punkt S: Agenden zur Verantwortung sowie zu Rechten und Pflichten von Medien. Punkt T: Globale Maßnahmen zur Rettung und Erhaltung der Artenvielfalt von Flora und Fauna. Punkt U: Abschaffung von Atomkraft und Fokussierung auf die Entwicklung erneuerbarer Energien. Punkt V: Globale Gesetze zur Erhaltung des Regenwaldes und der Ozonschicht. Punkt W: Einführung des Grundsatzes: Globalisierung aus Verantwortung für die Welt. Punkt X. Punkt Y. Punkt … Und das alles sofort! Eine Utopie also, die genau wie beispielsweise diejenige von Klappe-die tausend-neunhundertachtundsechzigste-Demonstrationskultur aus einer Notwendigkeit heraus entstehen muss, aber nicht entstehen wird, weil die Notwendigkeit jetzt schon wesentlich höher und dringlicher ist als diejenige von Klappe Tobak, und wir wissen, dass diese Utopie immer eine Utopie bleiben wird, weil es eine Utopie ist, die nicht von einer revoltierenden Jugendbewegung aus- und eingelöst werden kann, sondern nur von allen Menschen.

LEKTION SIEBEN: Also sind wir alle schuld? Das macht gleich ein besseres Gefühl, nicht wahr? Wir sind alle schuld, also Schwamm drüber. Dann zieht uns wenigstens niemand zur Rechenschaft. Aber nicht zu wissen, wie man etwas machen kann, ist keine Entschuldigung. Man muss es einfach versuchen. Man muss es versuchen und darf sich von Feigheit, Dummheit, Angst, Unentschlossenheit, Überforderung, Selbstmitleid, Zeitnot, Bequemlichkeit und Egozentrik und von der ganzen gottverdammten Welt nicht abhalten und einschüchtern lassen. Punkt.

LEKTION ACHT: Aber man muss doch trotzdem irgendwo anfangen? Ja, natürlich! Tun wir erst einmal einfach das, was wir schon immer gemacht haben, nämlich brav sein und die Klappe (!) halten. Ansonsten sollten wir boykottieren, was das Zeug hält. Und aus diesem Grund folgt an dieser Stelle noch einmal gekürzt eine schon hundertausendmal heruntergebetete Liste der profansten Kleinigkeiten, die wir aus dem Effeff kennen, aber aus irgendeinem verschleierten Grund doch nicht befolgen: Boykottiert das Fernsehen. Man braucht nicht mehr zu sagen, weshalb. Boykottiert die Werbung. Das Grundprinzip des Kapitalismus ist die grenzenlose und allumfassende Manipulation durch Werbung. Und das Grundprinzip der Werbung ist: Je skrupelloser man manipuliert, desto erfolgreicher ist das Produkt. Dabei ist klar: Ohne Manipulation funktioniert die Welt nicht und schon gar nicht die Marktwirtschaft. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir das alles reflektieren können, aber das ist ein Trugschluss. Die Bilder, die wir sehen, halten einen direkten Einzug in unser Unterbewusstsein. Wir wissen, dass die Politik der Wirtschaft und dem großen Geld immer höriger wird. Keine Entscheidungen werden getroffen, die nicht im Interesse der Wirtschaft sind. Macht Schluss damit und boykottiert die Werbung und damit den direkten Einfluss der Wirtschaft auf unser gesellschaftspolitisches Leben. Boykottiert die Maxime: Je dümmer desto besser! Die Dümmsten dabei sind und bleiben nämlich wir. Und wenn man nachdenkt, findet man noch hundert andere Dinge, die man boykottieren kann und sollte. Also denkt nach. Warum das nicht funktionieren wird? Ganz einfach, für alle, die es noch nicht begriffen haben: Wir sind keine von der Welt isolierten Aussteiger, sondern Teil der Gesellschaft, und unser leicht zu entschlüsselndes Geheimnis ist, dass das Fernsehen und die Massenmedien inklusive Werbung schon seit siebzig Jahren unsere Gesellschaft definieren, dass wir kaum noch etwas anderes haben als Fußballgroßereignisse, bei denen wir mit einer anachronistischen und obsolet gewordenen Flagge herumwedeln und das auch noch für sportlich harmlos halten. Aber wir sind keine Generation von Individualisten, auch wenn manche von uns da immer noch an der Realität vorbei sehen, weil das Gegenteil ein tiefes schwarzes Loch zu sein scheint. Es sei dir gegönnt, Alternative Superstar. Aber der Rest von uns muss zugeben, dass uns wie alle anderen vor uns und nach uns eines auszeichnet, nämlich menschliche Schwächen. Nichts, wofür man sich schämen müsste. Ach ja, da war auch noch die große Freiheit, die Freiheit, allen Arten von Moden, Trends und Sensationen hinterherzujagen, von einer Kauf- und Saufbefriedigung zur nächsten und wider allen besseren Wissens warten viele von uns immer noch darauf, dass irgendwann mal „ihr großes Ding“ vom Himmel fällt, direkt hinein in ihren Schoß. Das ist die Prägung unserer behüteten Kindheit. Je mehr Freiheit man hatte zu tun, was man wollte, desto weniger interessieren wir uns zu tun, was getan werden muss.

LEKTION NEUN: Sollte es trotzdem dazu kommen, dass hier oder da jemand die Grundlagen einmal bewältigt hat, dass man all das boykottiert, was boykottiert werden sollte, dann sollte man sich engagieren, und zwar je nach Belieben. Ob gemeinnützig, kulturell oder politisch – überall gibt es Möglichkeiten, die Welt – und sei es auch nur im Kleinen – zu einem besseren Ort zu machen. Die Politik braucht Idealisten, Menschen, die nicht über einen Weg des Abschleifens von Idealen, durch Parteihörigkeit oder Fraktions-zwänge zu pragmatischen Machtmenschen werden. Lasst die ängstlichen und blassen Bürokraten in der zweiten oder dritten Reihe stempeln, aber nicht ganz vorn. Also mischt euch ein. Dann habt ihr nicht mehr das Gefühl, nur eine kleine Wählerstimme von irgendwo weit weg zu sein. Eure Hilflosigkeit wird sich dadurch vielleicht nicht wesentlich verbessern, aber ihr habt wenigstens getan, was ihr konntet. Und lasst euch nicht von den euch umgebenden Strukturen anpassen oder abschleifen, nicht in der Arbeit, nicht daheim und auch nirgendwo sonst. Niemand hat euch zu sagen, was ihr denken sollt. Also bewahrt und verteidigt eure Ideale, eure Werte und euren Wunsch von der Welt, wie sie sein sollte und behaltet den Unterschied im Auge zu der Welt, wie sie ist.

LEKTION ZEHN: Die Zeiten sind vorbei, in denen man sich Bequemlichkeit noch leisten konnte. Bequem schlafen werden wir noch früh genug, wenn wir nach einem frühen Schlaganfall oder Herzinfarkt, der sich ohnehin kaum vermeiden lässt, in unserem Grab liegen. Gönnt den letzten Übriggebliebenen der Wohlstandsgeneration ihre wohlverdiente Ruhe. Wir werden sie nicht haben. Aber das darf uns nicht jetzt schon fertigmachen. Also werden wir uns immer und immer wieder aufs Neue bemühen müssen, bei jeder Kleinigkeit. Ganz bestimmt werden wir es nicht so machen wie unsere Väter, die sich nach einer halberfolgreichen Klappe-die-tausendneunhundertachtundsechzigste-kurzfristigen-Wohlstandsweltveränderung in ihrem beschaulichen Wohlgefühl, etwas erreicht zu haben, bis zum Lebensende sonnen. Im Übrigen liegen die meisten ihrer großen Ideale und Errungenschaften schon längst kopfüber in der Gosse. Danke trotzdem.

LEKTION ELF: Ebenso abgelaufen ist die Zeit der politischen Programme. Hier geht es nicht mehr darum, die allerletzten Wohlstandsreste noch bis zum endgültigen Exzess auf diese oder jene Weise zu verwalten. Und damit ist der Traum unserer heutigen Politik ausgeträumt – der Traum, die Visionen der Demokratie und Menschenrechte, des Humanismus und des Wohlstands für alle so lange als möglich bürokratisieren und eben verwalten zu können. Jetzt stellt sich mit der ehemals sozialistischen Hymne eine wesentlichere Frage. Denn aufwachen zu können ist nicht mehr Option für die Verdammten dieser Erde. Die Völker hören die Signale seit Jahrzehnten und haben weiter nichts zuwege gebracht. So wird es wohl auch bleiben, bis es auf diese oder jene Weise zu spät ist. Wir selber sind es, die das ausbaden werden. Uns hilft kein einseitig ausverhandelter Generationenvertrag, der die Last von unseren Schultern auf die nächste Generation übergehen lässt. Irgendwann ist Schluss. Und dieser Schluss zeichnet sich mehr und mehr und in aller Deutlichkeit ab.

LEKTION ZWÖLF: Dann wollen wir mal hoffen.

Jorghi Poll lebt und arbeitet als Autor und Verleger in Wien. 2009 gründete er als Lektor und Geschäftsführer den Bühnenverlag gleichzeit Verlagtheater. Ab 2012 Verlagsleitung und Lektorat der Edition Atelier, mit dem Schwerpunkt auf zeitgenössische Literatur. Mit seinen Theaterstücken hatte er verschiedene Uraufführungen, u.a. Die Hängenden Gärten im Pygmaliontheater Wien und für Linz 09 (Regie: Karoline Hartel) und 2010 My Generatio n an der Garage X – Theater Petersplatz in Wien (Regie: Antje Schupp), sowie diverse Publikationen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Magazinen.

Meldungen


  • Garage X wird zu WERK X

    Sie befinden sich auf der alten Seite der Garage X (2009-2014).

    Den aktuellen Spielplan des WERK X finden sie unter www.werk-x.at!

     
  • GARAGE X liest:

    5 JAHRE GARAGE X


    © Alex Halada

    Nach 5 Jahren Theaterarbeit mündet diese nun in einem Buch mit vielen Fotos und Gastbeiträgen namhafter TheatermacherInnen, MusikerInnen und KünstlerInnen wie Nicolas Stemann, Schorsch Kamerun, Angela Richter und Milo Rau.

     
  • Internationale Presse über GARAGE X

    "Ein typisches Beispiel für den lässig-unaufgeräumten Stil, den die GARAGE X etabliert hat." - Wolfgang Kralicek, Theater heute, Februar 2013

    "Alexander Simon (...), ein fabelhaft eitles Mistviech, der den Autor Houellebecq mit scharfer Kontur verkörpert." - Egbert Tholl, Süddeutsche Zeitung, 21.11.2012

    "...In Berlin im Hau oder in Wien in der Garage X, dort trifft man dann auf die Magie, die dem Stadttheater längst abhandengekommen ist..."
    Peter Kern, Das Theater schafft sich ab, FAZ am Sonntag, 02.05.2011

    "Die Garage X in Wien gilt als Ort, an dem sich auf fruchtbare Weise gesellschaftliche Gegenwart mit zwingenden Theatererlebnissen verbindet."
    Hamburger Abendblatt, 08.12.2011

    "Die Garage X tut sich als eines der führenden Theater Wiens hervor mit Gastspieleinladungen wie ans Hamburger Thalia Theater und Lob in der FAZ"
    Dorothee Frank, Ö1, 28.01.2012

     
  • Kooperationen

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  • Palais Kabelwerk, GARAGE X und daskunst freuen sich über neues Projekt ab 2014

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    © WERK X

    Wien (OTS) - Wie bei der Pressekonferenz der Wiener Theaterjury am Freitag 15.02.2013 durch den amtierenden Kulturstadtrat Dr Andreas Mailath Pokorny bekannt gegeben, werden das Palais Kabelwerk und die GARAGE X unter Partizipation der Gruppe dasKunst ab 2014 ein gemeinsames Projekt starten.
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