Cut up Kolchis, Korinth, Cruel Picture und die Zombies des Sozialismus
von Izy Kusche
Frigga, ein Mädchen aus der schwedischen Provinz, wird entführt und zur Prostitution gezwungen. Für ihre Revanche nimmt sie Kampfsport-, Schieß- und Fahrunterricht, besorgt sich eine markante, abgesägte Schrotflinte, mit der sie erst ihre Freier der Reihe nach erschießt, wie Polizisten oder wahllose Passanten, die ihrem Rachefeldzug ebenso zum Opfer fallen. Dann, als Höhepunkt foltert sie ihren Zuhälter grausam, brutal, schonungslos. Quetsch. Würg. Stech. Und ihr Blick bleibt starr, als sie ihn endlich sterben sieht. Röchel. Gurgel. Ächz. Soweit die Handlung eines schwedischen Horrorfilms aus den 70er Jahren.
In seiner Schlusseinstellung fährt Frigga, nachdem sie ihren Zuhälter getötet hat, in einem gestohlenen Polizeiauto dem Horizont entgegen und verschwindet. Diese Sequenz erinnert an eine andere berühmte Rächerin: Medea, die letztendlich in einem goldenen Wagen der Szenerie entschwebt.
Die Barbarin Medea ist keine Sexsklavin wie Frigga, doch, so sagt man, eine Gefangene der Liebe. Ihre Liebe zum schönen Griechen Jason entfremdet sie ihrer Heimat Kolchis. Dabei soll Medea selbst ebenfalls ›nicht ohne‹ gewesen sein und Jason sie ganz ›interessant‹ gefunden haben. Lechz. Wenn auch mit Hintergedanken. Seufz. Hilf mir. Ich brauch etwas aus Kolchis, das eigentlich meinem Volk gehört. – So? Und was? – Ehm, ja, also: das Goldene Vlies …
Nun handelt es sich beim Goldenen Vlies um nichts geringeres als das wichtigste Kulturdenkmal der Kolcher. Aber wie man so sagt: zwei Menschen, ein Blick; und Medea stiehlt für Jason das Vlies. Gemeinsam fliehen sie mit dem Diebesgut in seine Heimtat, wo er ihr ein Leben in unendlicher Liebe verspricht.
Bekanntermaßen ist alles anders gekommen. Vlies hin oder her. Kurz nach der Rückkehr in Jasons Heimatstadt Jolkos zettelt er mit Medea eine Palastrevolte an und greift nach der Krone von Pelias, wenn auch erfolglos. Denn zwar gelingt es ihnen Pelias zu töten, aber Jason und Medea können sich trotzdem nicht durchsetzen und müssen aus Jolkos wieder fliehen. Nach einer schier unendlichen Flucht, die immerhin so lange dauert, dass die beiden in der Zwischenzeit zwei Kinder bekommen, landen sie im fremdenfeindlichen Korinth. Ausgerechnet dort erhalten sie zumindest vorübergehend Asyl, doch schlussendlich verweigert der enorm populäre König Kreon Medea doch die Aufenthaltserlaubnis. Weil sie eine Barbarin ist, hat er ein leichtes Spiel, sie als Mörderin von Pelias abschieben zu lassen. Jason dagegen will Kreon mit seiner Tochter vermählen, die jünger als Medea ist, wesentlich jünger, die raffinierter geschnittene Kleider als Medea trägt (Medea rennt in letzter Zeit nur noch in einem altmodischen, schwarzen Ledermantel rum) und die sichtlich scharf auf Jason ist. Tja. Nebenbei winkt ihm mit der Heirat der Posten des Thronfolgers. Aber warum will man Jason dabehalten? Dafür scheint es eigentlich keinen Grund zu geben. In Korinth mag sich bloß niemand vorstellen, dass der Grieche Jason am Mord des Griechen Pelias beteiligt gewesen sein könnte. Es drängt sich der Verdacht auf: Medeas Fremdheit ist ein willkommener Helfer bei Jasons Aufstieg. Er unternimmt jedenfalls nichts zur Verteidigung Medeas.
Wir, als Zeugen dieser tragischen Verwicklung, mögen aufrichtig Medeas Schicksal bedauern. Aber jedes Mitleid bestätigt auch ihre Fremdheit. Es verschwindet hinter der Fassungslosigkeit angesichts ihrer Rache, die nun folgt. Sie tötet ihre Kinder, aber lässt Jason am Leben, damit er leidet. Und auch, wenn man folgern mag, man hätte die Barbarin vorher besser behandeln sollen, gelangt man nicht über bloßes Mitleid hinaus. Der Kern des Skandals besteht immerhin darin, wie kulturelle Unterschiede als natürlich behauptet werden.
Diese Logik, die eine Verschiedenheit zur Unvereinbarkeit erklärt, scheint einem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung zu gleichen, als Einzelner und in Gesellschaft: So bin ich und so sind alle anderen. Und wem das nicht passt, der hat hier nichts zu suchen. Diese Selbstbezüglichkeit erfolgt nicht etwa aus einem Nachdenken über sich selbst, sie ist Ausdruck mangelnder Selbstreflektion. Schließlich will man keine Einsicht in die Ungerechtigkeit in Korinth nehmen. Eine Heimatidentität lässt sich vielleicht modernisieren (Laptop und Lederhose), aber eben nicht grundsätzlich ändern. Und bereinigt von Volkstümlichkeit und Tradition erstreckt sich diese Erfahrung vergleichend auf die Wahrnehmung der globalisierten Welt. Wenn es zuhause doch schön ist, kann man es schließlich hinnehmen, dass die herrschenden Verhältnisse der Gegenwart alternativlos scheinen.
Dass man diese Verhältnisse als Subjekt selbst gestalten kann, diese Idee wirkt äußerst selten und nur punktuell während der wenigen Sonderfälle der Geschichte, in denen Gesellschaften durch Revolutionen erschüttert werden. Mit ausdrücklicher Ausnahme der letzten Umwälzung von 1989: Sie bestand nicht nur in der Überwindung der sozialistischen Ideologie, sondern begrub die Vorstellung von Veränderbarkeit der Gesellschaft gleich mit. Und im Umkehrschluss erscheint der Kapitalismus im öffentlichen Diskurs seither als tatsächlich alternativlos. So ist der Mensch. Er strebt nun mal nach seinem eigenen Profit. Und selbst eine Liebes- mithin Naturgeschichte dient als Veranschaulichung seiner Geschäftswelt. Was hätte Jason schon tun können? Man kann sich nicht ewig gegen die Verhältnisse auflehnen.
Schnitt.
Zeit, einen Mythos aufzuklären: Medea wird nicht zum Opfer der Liebe (mithin Natur). Sie ist die letzte Vertreterin einer Utopie, für die sie kämpfen will – (ursprünglich) Seite an Seite mit Jason. Denn auch Jason hat sich eigentlich schon immer engagiert gegen Ungerechtigkeit, auch bevor er überhaupt nach Kolchis kam. Deshalb wirken sie (gemeinsam) wie Fremde in Korinth (bis Jason sie verrät), die wie vergessene Ikonen aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen – aus den 70er Jahren, wo sich Gesellschaftskritik noch im Mainstream äußern konnte, wie beispielsweise in einem schwedischen Horrorfilm. Grusel. Und was folgt daraus heute, da oder weil der Mythos der Protestära doch längst gestorben ist?
Der Aufklärung von einem Mythos folgt ein neuer Mythos, dessen Aufklärung ein neuer Mythos folgt, dessen Aufklärung wiederum – Stopp. Zurück. Murederiew gnurälkfuA nessed, tglof sothyM reuen nie gnurälkfuA nessed, sohtyM reuen nie tglof sohtyM menie nov gnurälkfuA reD.
Start. Die Mündung der Schrotflinte wie Nüstern. Eine Hand stützt den Lauf. Das rechte Auge zielt durchs Visier. Das linke wird verdeckt von einer schwarzen, ovalen Klappe. Die glatten und kastanienbraunen Haare liegen auf ihrer linken Schulter. Der schwarze Ledermantel schimmert leicht im matten Tageslicht. Der Himmel leuchtet farblos.
Das entscheidende Requisit aus dem Film Cruel Picture deutet auf eine bewusste Entscheidung von Frigga/Medea hin, und sei sie noch so irrational. Sie will töten. Ihre Entscheidung erfolgt aus einer Fremdheit im Denken, und umgekehrt ist ihre Differenz zur Gesellschaft auch eine gedankliche Unterscheidung, kein Determinismus als Opfer, keine soziale Ursache oder eine Frage der Herkunft. Wir sind alle gleich. Hüstel. An sich unterscheidet sich die Barbarin nicht von den Griechen. Hüstel, hüstel. Auch Kolchis und Griechenland unterscheiden sich nicht wesentlich, es herrschen überall dieselben Geschäftsbedingungen. Der Umstand, dass Medeas Protest dagegen scheitert, liegt nicht in der Natur der Sache (ihres Protests), sondern an Medeas spezifischen Ableitungen, die in Gewalt als Selbstzweck münden, eine persönliche Angelegenheit, in die sich die ursprüngliche Reaktion auf gesellschaftliche Machtkonstellationen verwandelt. Das ist: das Grauen, das Grauen. Die Tragödie der Zombies des Sozialismus. Im antiken Drama erscheint Gewalt als ein Ausdruck für die Unlösbarkeit eines Konflikts, im Horror als Sinnbild für die Lösung selbst, obwohl die Aufhebung der Spannung mit der Errettung des Opfers im Showdown eigentlich Ausdruck einer Ohnmacht ist: als würde sich dem Subjekt stets nur die Möglichkeit bieten als Objekt zu reagieren. So gesehen bleibt die Ursache des Grauens bestehen, bis –
Der 1973 in Hamburg geborene Autor Izy Kusche schreibt Theaterstücke und Prosa. 2013 in der Edition Atelier von ihm erschienen: Kassiber – Neueste Nachrichten legendärer Gefangener und Ausgestoßener zur Zeit des Trojanischen Kriegs. Die (gemeinsam mit Sebastian Fust entstandene) "Rock’n’Roll-Monolog-Road-Show" war Anfang 2011 in der Garage X zu sehen. Sein Text "Thriller! Jason und Medea kurz vor Mitternacht" hatte Im April 2013 hier seine Uraufführung (Inszenierung: Antje Schupp).
Sie befinden sich auf der alten Seite der Garage X (2009-2014).
Den aktuellen Spielplan des WERK X finden sie unter www.werk-x.at!
5 JAHRE GARAGE X
© Alex Halada
Nach 5 Jahren Theaterarbeit mündet diese nun in einem Buch mit vielen Fotos und Gastbeiträgen namhafter TheatermacherInnen, MusikerInnen und KünstlerInnen wie Nicolas Stemann, Schorsch Kamerun, Angela Richter und Milo Rau.
"Ein typisches Beispiel für den lässig-unaufgeräumten Stil, den die GARAGE X etabliert hat." - Wolfgang Kralicek, Theater heute, Februar 2013
"Alexander Simon (...), ein fabelhaft eitles Mistviech, der den Autor Houellebecq mit scharfer Kontur verkörpert." - Egbert Tholl, Süddeutsche Zeitung, 21.11.2012
"...In Berlin im Hau oder in Wien in der Garage X, dort trifft man dann auf die Magie, die dem Stadttheater längst abhandengekommen ist..."
Peter Kern, Das Theater schafft sich ab, FAZ am Sonntag, 02.05.2011
"Die Garage X in Wien gilt als Ort, an dem sich auf fruchtbare Weise gesellschaftliche Gegenwart mit zwingenden Theatererlebnissen verbindet."
Hamburger Abendblatt, 08.12.2011
"Die Garage X tut sich als eines der führenden Theater Wiens hervor mit Gastspieleinladungen wie ans Hamburger Thalia Theater und Lob in der FAZ"
Dorothee Frank, Ö1, 28.01.2012
© WERK X
Wien (OTS) - Wie bei der Pressekonferenz der Wiener Theaterjury am Freitag 15.02.2013 durch den amtierenden Kulturstadtrat Dr Andreas Mailath Pokorny bekannt gegeben, werden das Palais Kabelwerk und die GARAGE X unter Partizipation der Gruppe dasKunst ab 2014 ein gemeinsames Projekt starten.
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